18.10.2003
Renaissance erfordert innere Erneuerung

Hintergrundgespräch mit Apostel Rudolf Kainz (Neuapostolische Kirche Österreich) über den Inhalt des Apostelbriefes „Das Werk Gottes braucht eine Renaissance“, den er in der Kirchenzeitschrift „Unsere Familie“ (Ausgabe 18/2003) veröffentlichte.

„Nicht einfach eine abgedroschene Phrase“

naktuell.de: Der Titel Ihres Apostelbriefes sagt es schon: Sie treten für Veränderungen oder Neubelebungen in unserer Kirche ein. Sie sprechen von einer „Renaissance des Werkes Gottes“. Was verstehen Sie darunter?

Apostel Kainz: „Ich möchte zunächst jenes Zitat verwenden, welches eigentlich vom Stammapostel ausgegangen ist. In der Apostelversammlung in Leipzig hatte der Stammapostel uns, den Aposteln, zunächst diesen Hinweis gegeben: Er wünscht, dass das Werk Gottes eine Renaissance erlebt. Er hatte das in etwa so definiert: Im Brockhaus steht die Definition Wiederbelebung der Glaubenskünste. Dann sprach er noch von einer Renaissance der Information und Kommunikation, das ist in diesem Artikel dann nicht mehr angegeben.

naktuell.de Was hat Sie motiviert, diesen Grundgedanken aufzugreifen und fortzuführen?

Apostel Kainz: „Man kann natürlich sagen: Im Werk Gottes ist alles wunderbar, es entwickelt sich und wir haben in vielen Ländern Zuwachs. Aber auf der anderen Seite wird immer davon gesprochen, es gibt zu wenig Freude, es ist ein Schlendrian drinnen und es ist oberflächlich geworden. Dann muss man sich die Frage stellen: Woher kommt das und was können wir dagegen tun? Eigentlich gibt uns die Heilige Schrift genug Hinweise. Ich habe nur ein Beispiel angeführt, wo sich der Sohn Gottes in Offenbarung 2 und 3 mit den sieben Sendschreiben an seine Gemeinde wendet. Jesus selbst fordert ja diese Renaissance: Zurück zur ersten Liebenennt er das.

naktuell.de: Wie haben Sie die Aussage des Stammapostels aufgefasst und was bewirkte dieser Aufruf bei Ihnen und den anderen Teilnehmern der Apostelversammlung?

Apostel Kainz: „Ich kann natürlich nur von mir reden. Ich sehe darin nichts anderes als ein Wahrmachen der Worte Jesu, gerichtet an die sieben Gemeinden. Der Sohn Gottes geht äußerst psychologisch vor. Er stellt zuerst fest, was gut ist. Das sieht man in all den Briefen bis auf eine einzige Ausnahme, wo er gleich das negative aufzeigt, weil nichts gutes da war. Dann stellt er fest, was nicht in Ordnung ist – lässt es aber nicht dabei bewenden, sondern gibt Hilfe, wie das wieder in Ordnung gebracht werden kann. Er fordert seine Gemeinde auf, sich immer wieder zu ihm hinzuwenden und das zu unterlassen, was am Ende ihr selbst schadet.

Das, was der Stammapostel angerissen hat, ist ein Nachdoppeln dessen, was Jesus auch in unseren Tagen fordert. Für mich hieß das ganz konkret: Ich muss zunächst mich selbst überprüfen, es dann aber sofort auch in die Gemeinden hineintragen. Wenn der Stammapostel so etwas sagt, ist das nach meinem Glaubensverständnis nicht einfach eine abgedroschene Phrase, sondern dann muss man etwas tun. So habe ich es empfunden. Was es bei den anderen Aposteln bewirkte, kann ich nicht sagen, das ist deren Sache.
 

„Jede Gemeinde soll Erneuerung betreiben“

naktuell.de: Sie berichten, dass in Österreich eine Arbeitsgruppe gegründet wurde, mit dem Ziel, Antworten zu finden auf die Frage: Was bedarf einer Renaissance im Werk Gottes? Wie kann man sich die Arbeit dieser Gruppe vorstellen?

Apostel Kainz: „Wenn wir uns wirklich mit diesem Appell des Stammapostels auseinandersetzen wollen, müssen wir erst einmal eine Standortbestimmung machen. Ich hatte Brüder und Schwestern, die aus unterschiedlichen Einstellungen kommen, gebeten, an einer Sitzung teilzunehmen. Es sollten Fundamentalisten genauso wie Progressive dabei sein. Es waren ungefähr 25 Personen, eine Mischung aus Amtsbrüdern, Nicht-Amtsbrüdern, Senioren, Jugendlichen, Brüdern und Schwestern. Es sollten auch Schwestern dabei sein, denn wir dürfen nicht übersehen: Wir brauchen unsere Schwestern. Wir können unwahrscheinlich viel von ihnen lernen. Gerade sie sind an der Basis. Sie erleben das Werk Gottes ganz real. Ihre Beobachtungsgabe ist uns äußerst wichtig.

Im Laufe der Gespräche stellte ich fest, dass diese Gruppe ein Stimmungsbild, das im Werk Gottes in Österreich vorhanden ist, wiedergibt. Ich habe gesehen, wie reagiert wird, wenn man gewisse Themen anschneidet. Es geht nicht darum, einen Aufstand herbeizuführen, sondern Schritt für Schritt all unseren Geschwistern bewusst zu machen, wie wichtig eine innere Erneuerung ist. Das Ganze kann nur dann wirklich greifen, wenn wir diese Gruppe Renaissance nicht nur österreichweit haben, sondern jede Gemeinde daran arbeitet, diese Erneuerung in den eigenen Reihen zu betreiben. Das ist das Ziel unserer Arbeit. Wir werden jetzt in allen Gemeinden damit anfangen, uns mit diesen Gedanken zu beschäftigen und schrittweise in die Tat umzusetzen.

Es wird immer wieder gejammert: Die Weinbergsarbeit schläft, es gibt keinen Zuwachs. Warum denn nicht? Die Ursachen sind von Gemeinde zu Gemeinde verschieden. Nur mal ein Beispiel – und das muss die Gemeinde selbst aufarbeiten: Wir müssen auch hier wieder etwas mehr Urkirche werden! In der Urkirche war die Gemeinde eigentlich das zentrale. Es gab viel mehr Gemeinschaftsarbeit, als wie wir das heute bei uns in den Gemeinden haben. Gut, wir haben größere Gemeinden und man kann Entschuldigungen anführen. Aber es geht um die Basis und den Ursprung.
 

„Jesus ist und bleibt der Ursprung“

naktuell.de: Sie verstehen unter einer „Renaissance des Werkes Gottes“ eine Erneuerung und Rückbesinnung auf den Ursprung und das Evangelium, nicht etwa ein Zurück zu früheren Entwicklungen und Tendenzen in unserer Kirche?

Apostel Kainz: „Nein, Rückbesinnung auf das Evangelium und auf den, der unser Meister ist und bleibt. (...) Das ist ein besonderes Anliegen für mich. Das entscheidene für uns Amtsbrüder und die Geschwister ist: Jesus muss Zentralpunkt bleiben! Wenn ER verschwindet, wenn das menschliche zu sehr im Vordergrund steht – auch Menschenverehrung – dann geht das am Wesen von Christus vorbei. ER muss im Mittelpunkt sein.

Wenn wir uns bemühen, sein Wesen wirklich anzuziehen und ihn als Meister zu akzeptieren, muss man sich immer wieder die Frage stellen: Was würde er in meiner Situation tun? Ich bin überzeugt, dass jeder neuapostolische Christ in Wirklichkeit ganz genau weiß und fühlt, was Jesus tun würde. Wir singen in einem Lied: Wir möchten Jesum sehn. Aber die Frage ist: Sehen die Kinder an den Eltern, der Mann an seiner Frau und umgekehrt ein Stück von Jesus? Das sollten wir uns wirklich bewusst machen. Das scheint mir in unserer Zeit die wichtigste Aufgabe zu sein: Zurück zum Ursprung – und das ist und bleibt Jesus.
 

„Was uns fehlt, ist der Kirchenbegriff“

naktuell.de: Wenn in unserer Kirche vom „Werk Gottes“ gesprochen wird, dann ist immer die Neuapostolische Kirche selbst gemeint. Macht das Wirken Gottes an organisatorischen Grenzen halt oder geht es darüber hinaus? Wie sehen Sie das?

Apostel Kainz: „Um den Begriff Werk Gottes zu definieren, müssen wir in die Offenbarung sehen. Es besteht ein Unterschied zwischen der Kirche Christi und der Gemeinde des Herrn. Da haben wir noch einen Nachholebedarf. Was uns fehlt, ist der Kirchenbegriff! Was ist nun wirklich Kirche Christi? Es wäre zu engstirnig nur zu sagen: Das ist die Neuapostolische Kirche. Das muss also mehr sein. Nachdem offiziell von der Kirchenleitung noch nicht definiert worden ist, was Kirche Christi ist, möchte ich mich da im Augenblick nicht zu weit aus dem Fenster lehnen.

naktuell.de: Für die Zukunft können wir also entsprechende Neuformulierungen zum Eigenverständnis unserer Kirche erwarten?

Apostel Kainz: „Das auf alle Fälle. Wenn man an das denkt, was der Stammapostel zu Pfingsten bezüglich der Märtyrer hat anklingen lassen, und wenn man gewisse Bilder der Offenbarung dazunimmt, wird man von selbst darauf kommen, dass der Begriff Kirche Christi etwas weiter gefasst werden muss. Auch bei dem Begriff Brautgemeinde darf man nicht nur an die Neuapostolische Kirche denken. Das wäre falsch. Aber auch nicht nur an die Versiegelten, sondern an diejenigen, die dem Herrn die Treue gehalten haben bis zuletzt. Da müssen wir auch die Katholisch-Apostolischen, die Urkirche, die Seelen in der Ewigkeit, gewisse Persönlichkeiten aus dem Alten Bund, dazunehmen. Es wird einfach vergessen, auch darüber nachzudenken. Eine Sicherheit darf niemand haben. Es geht noch immer darum, zu Überwinden, also zu Kämpfen und zu Siegen. Es muss also jeder tatsächlich um seinen Glauben ringen. Das ist nicht etwas, was einem in den Schoß fällt.
 

„Die Bibel wurde nicht so sehr geschätzt“

naktuell.de: In Ihrem Artikel nennen Sie einige problematische Entwicklungen, die Sie für verbesserungswürdig halten. Sie schreiben, dass der Heiligen Schrift der Stellenwert eingeräumt werden sollte, der ihr gebührt. Welchen Stellenwert hat die Bibel in unserer Kirche, wo sehen Sie diesbezüglich Defizite?

Apostel Kainz: „Ich behaupte einfach mal, dass wir noch unter einer Altlast leiden. Wenn ich Jahrzehnte zurückdenke, hatte die Bibel absolut nicht den Stellenwert, der ihr in Wirklichkeit in einer christlichen Kirche gebührt. Natürlich haben wir, wie es so schön heißt, das lebendige Wort Gottes. Das ist auch notwendig und es führt weiter. Aber die Bibel darf deswegen nicht zu kurz kommen. Sie ist und bleibt die Grundlage unseres Glaubens. Die Tatsache, dass die Bibel nicht so sehr geschätzt wurde, hat natürlich zur Folge, dass auch unsere Amtsbrüder und Geschwister viel zu wenig in der Heiligen Schrift lesen.
 

„Es mangelt teilweise schon an Respekt“

naktuell.de: Sie berichten von mangelnder Vergebungs- und Versöhnungsbereitschaft in den Gemeinden, von fehlendem Vertrauen in die Verschwiegenheit der Amtsträger. Sie schreiben, die Geschwister reden zu wenig offen miteinander. Wie kann man da Abhilfe schaffen? Wie können diese Zustände verändert werden?

Apostel Kainz: „Das ist eine sehr zähe und mühsame Arbeit. Ich kann niemandem befehlen, versöhnlich zu sein und zu vergeben. Aber ich kann Hilfestellungen geben, dass endlich diese Fehden, die da und dort unter Geschwistern sind, aufhören. Ich rede nur von Österreich. Diese Fehden haben manchmal fast schon Tradition, wo man heute gar nicht mehr weiß: Warum grüßt der eine den anderen nicht? Vielleicht sind es Banalitäten. Wann kann denn in einer Gemeinde Freude sein? Wenn man sich untereinander mit Respekt begegnet! Ich rede da noch gar nicht von Liebe. Es mangelt teilweise schon an Respekt vor dem Menschen. (...) Im kommenden Jahr wollen wir uns in den Gemeinden intensiv mit diesem Thema beschäftigen, gerade aufgrund der Erfahrungen, wie viel in Bezug auf Vergebung und Versöhnung noch zu tun ist. Das dann auch umzusetzen, ist schwer. Wir müssen im Amtsbrüderkreis damit beginnen, dass einer auf den anderen zugeht. Es ist ein Unterschied, ob jemand nur Amtsbruder ist oder ob wirklich Brüderlichkeit herrscht.
 

„Informationen ‚eins zu eins‘ vermitteln“

naktuell.de: Sie schreiben auch, dass die Geschwister zu wenig offen miteinander reden würden. Betrifft dieser Mangel an offener Kommunikation nur die zwischenmenschlichen Aspekte oder auch solche Themen, die das Kirchen- und Glaubensleben betreffen?

Apostel Kainz: „Je mehr man informiert, umso weniger muss man Angst haben, dass gewisse Themen mit Argwohn beäugt werden. Wenn ich informiere, nehme ich sehr den Wind aus den Segeln, dass über gewisse Dinge spekuliert wird oder Gerüchte entstehen. Die Information muss aber auch weitergegeben werden und dabei entstehen Reibungsverluste. Der Älteste informiert den Vorsteher, der Vorsteher den Prieser – und schon kommen Interpretationen hinzu. Es sollte gewährleistet sein, dass Informationen eins zu eins vermittelt werden.

naktuell.de: An dieser Stelle muss man über andere Wege der Informationsvermittlung nachdenken. In Österreich entstand neben der Zeitschrift „Unsere Familie“ ein eigenes Informationsblatt für Mitglieder der Neuapostolischen Kirche. Welche Erfahrungen haben Sie mit dieser Einrichtung gemacht?

Apostel Kainz: „Die Broschüre Du und ich erscheint viermal im Jahr. Es wird über Aktivitäten in Österreich berichtet. Hin und wieder werden andere Themen aufgegriffen, z. B. Sterbebegleitung, Beziehungen, Ehe, Ehekrisen und Scheidungen, auch Positionen der Kirche zu Psychiatern – sind das Personen die verteufelt gehören oder sollten wir nicht lieber ihre Hilfe in Anspruch nehmen in gewissen Situationen?! Das ist in dieser Broschüre veröffentlicht worden. Bitte sagen Sie ja nicht neben der Unsere Familie. Die Broschüre kann und darf nie eine Konkurrenz sein. Das sage ich aus Selbstschutz heraus. Wir hatten schon einmal Knatsch mit der Zeitschrift Unsere Familie, vollkommen zurecht. Wir hatten gewisse Sachen veröffentlicht, die eigentlich in die Familie gehörten. Da hat man uns gesagt: Das dürft ihr nicht! – Das ist uns klar und deshalb lege ich Wert darauf.
 

„Gesprächskreise sind eine Herausforderung“

naktuell.de: Welche Möglichkeiten sehen Sie, das Gemeindeleben und die Gemeinschaft in den Gemeinden zu aktivieren und positiv zu beeinflussen? Was halten Sie von Gesprächs- und Hauskreisen oder ähnlichen Einrichtungen, um Lebens- und Glaubensfragen in offener Weise zu besprechen?

Apostel Kainz: „Ich könnte mir das sehr gut vorstellen und würde das sehr begrüßen. Unser Bezirksapostel hatte in der vergangenen Zeit Gemeindenachmittage festgelegt, wo es um gewisse Themen ging, die in Gesprächskreisen besprochen wurden. (...) Ich führe hin und wieder so genannte Tage der Gemeinschaft in den Bezirken in Österreich durch. Da komme ich in die Gemeinden und spreche 20 bis 30 Minuten über ein aktuelles Thema, zum Beispiel die Vertiefung der Gedanken zur Ersten Auferstehung. Dann haben die Geschwister die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Manchmal ergibt sich ein äußerst reges Gespräch. Diese Erfahrungen könnten in Gesprächskreise übernommen werden. Es gibt Themen, die sind höchst interessant mit den Geschwistern zu besprechen. Das ist eine gewisse Herausforderung. Am Anfang ist es immer ein bisschen zäh. Aber ich stelle fest: Nachdem sich der erste oder zweite meldet, sind auch die Schwestern mit dabei und stellen Fragen – und das freut mich dann ganz besonders. So gibt es eine schöne Atmosphäre.
 

Haben wir uns von Jesus entfernt?

naktuell.de: In Ihrem Apostelbrief schreiben Sie weiterhin: Eine Rückbesinnung auf Jesus Christus, der feste Glauben an sein Wiederkommen und ein Zurück zum Leben und Glauben der urchristlichen Gemeinde könnten bewirken, den Rückgang der Gottesdienstbesuche zu stoppen und die Mission vor Ort zu beleben. Sie haben eine sehr deutliche Formulierung gewählt, nämlich: „Zurück zu Jesus“. Christus ist das Haupt seiner Kirche. Wo steht unsere Kirche heute, wenn Sie fordern: „Zurück zu Jesus“?  Haben wir uns von Jesus entfernt?

Apostel Kainz: „Das ist eine sehr heikle Frage. Ich möchte sie aber nicht als gefährlich bezeichnen. (...) Immer dort, wo Kälte ist, wo keine Vergebungsbereitschaft ist – überall dort, wo man ÜBER Liebe spricht, ÜBER Treue, ÜBER Opfer und man fühlt nicht Liebe, man merkt keine Treue – hat man sich von Jesus entfernt.
 

„Es ist auch viel menschliches geschehen“

naktuell.de: Die Hinwendung zu Jesus ist nicht nur eine Aufgabe für jeden einzelnen, sondern auch der Wortverkündigung selbst. Sie stimmen sicher zu, wenn ich sage: Die Hauptaufgabe eines Apostels Jesu sollte es sein, seinen Sender Jesus Christus zu verkündigen, ihm die Ehre zu geben und ihn unmissverständlich in den Mittelpunkt der Verkündigung zu stellen.

Apostel Kainz: „Das ist richtig. Ansonsten höre ich auf, Apostel zu sein! Ich denke dabei an ein Wort des Sohnes Gottes. Er hat gesagt: Ohne MICH könnt ihr nichts tun. Aber er hat nicht gesagt: Ohne euch kann ich nichts tun.

naktuell.de: Nun kann man durchaus feststellen, dass in unseren Predigten nicht selten „nur“ von Gott die Rede ist, als die eine Person. Auch die Kirche ist häufig Gegenstand der Predigt, ihre Leistungen und Strukturen werden verklärt und als entscheidend wichtig dargestellt. Welchen Stellenwert hat Jesus gegenwärtig in unserer Kirche – nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Glaubenspraxis?

Apostel Kainz: „Wenn Jesus in seinem Hohepriesterlichen Gebet sagt: ‚Ich bin in ihnen verklärt‘, bezieht er sich zunächst einmal auf seine Apostel in der Urkirche. Und jetzt muss ich – und da rede ich nicht im Namen anderer sondern wirklich nur für mich – mir immer die Frage stellen: Stimmt das auch für dich? Ich persönlich bin gefordert, mich zu fragen: Wenn ich rede, wenn ich denke, verkläre ich Jesus? Merkt der andere, dass jetzt Jesus erlebbar ist oder ist Kainz erlebbar?

naktuell.de: Sie verstehen Ihren Auftrag als Apostel also dahingehend: Entwickle ich mich hin zu dem, was Jesus selbst als Merkmale eines Apostels genannt hat und was er von seinen Aposteln erwartet?

Apostel Kainz: „Der Sohn Gottes ist und bleibt Maßstab und Meister. Er ist sozusagen alles. Wenn er sagt: ‚Der Apostel ist nicht größer, als der der ihn gesandt hat und der Jünger ist nicht über dem Meister‘, dann muss ICH derjenige sein, der als der Gesandte in den Spiegel schaut und darin zwei Gesichter sieht: Ich sehe – bildlich gesprochen – mein Gesicht und sehe das Gesicht Jesu. Ich muss mich immer fragen: Wo muss ich mich ändern? Nicht Jesus muss sich ändern, ICH muss mich ändern!

naktuell.de: Hat dieser Prozess der Rückbesinnung auf Jesus Christus und das Evangelium in unserer Kirche bereits begonnen?

Apostel Kainz: „Ich muss sagen: Ja, aber es ist ein sehr sehr zäher Prozess. Das klingt vielleicht etwas unverständlich, weil man sich fragen muss: Warum ist das ein so zäher Prozess der Rückbesinnung? Wissen Sie, es ist auch viel menschliches geschehen. Das muss man einfach so sagen. Das ist kein Vorwurf, das ist nur eine Feststellung. Wo Menschen sind, geschieht einfach menschliches. Aber es darf nicht mehr menschlich bleiben! Die Entwicklung muss immer mehr zu Jesus, dem Gottessohn und Menschensohn, zurückkommen.
 

„Fehler dürfen nicht totgeschwiegen werden“

naktuell.de: Jesus selbst predigte: „Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“ – Wenn man sich weiterentwickeln möchte, muss man bereit sein, sich zu verändern, Standpunkte aufzugeben, man muss bußfertig sein. Welchen Stellenwert hat Buße in unserer Kirche?

Apostel Kainz: „Das ist ein Begriff, der meines Erachtens viel zu wenig verwendet wird, vielleicht weil er sehr negativ besetzt ist, weil man darunter eher Tätigkeiten der Selbstkasteiung sieht. Aber trotzdem: Der neuapostolische Christ hat die Pflicht, Buße zu tun. Jesus fordert es ja: Tue Buße!Erkenne, was nicht in Ordnung ist, habe den Willen dich zu ändern, bereue es und gehe unter die Gnade. Das müsste eigentlich ein Bedürfnis sein. Und wenn einer tatsächlich bereit ist, diese Buße zu tun, kommt er automatisch in die Erneuerung und damit in die Renaissance hinein.

naktuell.de: Wenn sich unsere Kirche mit berechtigter Kritik konfrontiert sieht, beschränkt sich die Argumentation der Entscheidungsträger zumeist auf Absichtserklärungen. Es werden Veränderungen in Aussicht gestellt, es wird gesagt: „Wir wollen manches besser machen, aber was wir bislang gemacht haben war auch nicht falsch.“ Steht das nicht im Widerspruch zu der von Jesus explizit geforderten Bereitschaft zu Selbsterkenntnis, Einsicht und Umkehr? Gilt die Aufforderung zur Bußfertigkeit nur für jedes einzelne Glied der Kirche oder auch für die Kirche insgesamt?

Apostel Kainz: „Ich kann nur von dem reden, was ich erlebt habe. Ich kann nicht für andere sprechen. Aber ich meine: In dem Augenblick, wo Fehler geschehen sind, muss man sie eingestehen, denn sonst wird man unglaubwürdig. Das ist doch ganz normal. Fehler, die geschehen sind, können nicht dadurch ungeschehen gemacht werden, dass sie totgeschwiegen oder sogar verherrlicht werden. (...) Wenn wir in der Offenbarung die Kapitel 2 und 3 lesen, dann wendet sich Jesus an den Engel der Gemeinde, also den Amtskörper, und erst in Folge an die Gemeinde und damit auch an jeden einzelnen. Beim Amtskörper muss es beginnen. Die Vorsteher sind Vorbilder. Die Gemeinde orientiert sich an diesem Amtskörper. Wenn Jesus Umkehr fordert, dann muss es der Amtskörper sein, der hier vorangeht.
 

„Unsere Geschwister sind Konsumenten“

naktuell.de: In Ihrem Apostelbrief fordern Sie weiterhin ein „Zurück zum Leben und Glauben der urchristlichen Gemeinde“. Gemäß Apostelgeschichte schreiben Sie: „Die ersten Christen beteten wie noch nie, erlebten eine vorher nicht gekannte Bewegung, waren mutige Bekenner ihres Glaubens und wurden vom Heiligen Geist erfüllt. Jeder fühlte, merkte und erlebte, dass ER da war!“ – Aus diesen Worten spricht eine Sehnsucht nach der Wirksamkeit des Heiligen Geistes. Welche Möglichkeiten sehen Sie, das Geisteswirken in den Seelen und in den Gemeinden zu beleben?

Apostel Kainz: „Das kann man nicht per Dekret machen. Ich stelle da und dort fest, und ich rede jetzt nur von Österreich, dass unsere Geschwister Konsumenten sind. Wir haben natürlich viele Geschwister, die wirklich Gottesdienste erleben, die Antwort bekommen, die Kraft schöpfen und so weiter. Es gibt auf der anderen Seite auch Brüder und Schwestern, die kommen und konsumieren und gehen wieder und das war's dann schon. Es ist manchmal richtig frappierend, wenn man da und dort in die Gemeinde schaut und Geschwister sieht, die während des ganzen Gottesdienstes mit furchtbar frustriertem Gesicht dasitzen. Da muss ich mir die Frage stellen: Wie wirkt jetzt eigentlich das Wort?

Gut, ich muss mich natürlich in erster Linie selbst korrigieren und fragen, ist vielleicht zuviel menschliches rübergekommen, so dass die Seelen nicht berührt sind. Und auf der anderen Seite: Was erwarten unsere Geschwister eigentlich vom Gottesdienst? Das wichtigste für einen neuapostolischen Christen ist die Begegnung mit Gott. Wie herrlich war es damals bei Mose, der von der Begegnung mit Gott herunterkam mit einem strahlenden Gesicht. Es zeigte sich an ihm, was in ihm geschehen war. (...) Ich meine, das muss zu einem Thema auch in einer Gemeinde werden: Was kann ich tun, damit ich noch mehr die Wirksamkeit des Heiligen Geistes erlebe?!

naktuell.de: Wie kann das erreicht werden?

Apostel Kainz: „Wenn in der Neuapostolischen Kirche das so gemacht werden würde, wie es in der Urkirche war, wäre das ein großer Schritt zur Renaissance. In der Apostelgeschichte lesen wir: Die Apostel kamen aus dem Gefängnis und die Gemeinde betete. Nachdem sie gebetet hatten kam der Heilige Geist über sie. Es bewegte sich die Stätte und sie wurden voll des Heiligen Geistes. Und dann kamen die Wunder Gottes. Das heißt ja nicht, dass sie noch einmal den Heiligen Geist empfangen haben, sondern sie haben gefühlt, dass sie eine Kraft haben. Und jetzt stelle ich folgende provozierende Behauptung auf. Fragen Sie mal den neuapostolischen Christen: Wie merkst du, dass du Träger des Heiligen Geistes bist? Welche Antwort bekommen wir dann? Ich möchte darauf keine Antwort geben. Ich sage das um bewusst zu machen: Wir müssen doch fühlen und erleben, dass eine Kraft in uns ist – und die muss wirken!
 

„Der Heilige Geist muss erlebbar werden“

naktuell.de: Sie sprechen von Defiziten im Geisteswirken bei geistgetauften Seelen. Da muss die Frage erlaubt sein: Welchen Stellenwert hat das Sakrament der Heiligen Versiegelung in Bezug auf das Geisteswirken? Soll der Gläubige in erster Linie darauf vertrauen, den Heiligen Geist in sich zu haben, ihn quasi zu „besitzen“, sobald er diesen gemäß der Lehre unserer Kirche von einem lebenden Apostel gespendet bekommen hat?

Apostel Kainz: „Das ist zunächst ein erster Schritt. Ich zitiere Apostel Paulus, der davon spricht, dass Christus in uns Gestalt gewinnen muss. Die Versiegelung ist der erste Schritt. Die Tatsache, dass ich den Heiligen Geist empfangen habe, gibt mir nicht das Recht, über ihn zu verfügen. Wir sagen immer: Wir haben den Heiligen Geist! Ich weiß schon was damit gemeint ist. Aber wir dürfen nicht über den Geist Gottes verfügen. Er muss über uns verfügen! Er muss es sein, der uns ergreift. Es ist Aufgabe eines jeden Gläubigen, Gott darum zu bitten, dass die Kraft aus dem Heiligen Geist immer mehr wirksam und erlebbar wird.

naktuell.de: Könnten wir beim Sakrament der Heiligen Versiegelung – statt von einer Spendung des Heiligen Geistes – auch von einer Belebung des Geistes sprechen, die nachfolgend die tatsächliche Inanspruchnahme der Kräfte und Potentiale des Heiligen Geistes durch den Gläubigen selbst bedingt?

Apostel Kainz: „Ich versuche Ihre Frage zu interpretieren, so wie ich sie verstehe. Wenn gesagt würde, durch die Heilige Versiegelung wird der Heilige Geist belebt, würde das voraussetzen, dass jeder Mensch von Haus aus Träger des Heiligen Geistes ist. Wenn dieser Geist Gottes in der Empfangnahme des Heiligen Geistes gespendet wird, dann ist man Anwärter zur Erstlingsschaft. So wie in der Urkirche empfangen wir durch Jesus Christus, der durch die Apostel den Heiligen Geist spendet, jenes Vermögen was Jesus gegenüber Nikodemus so beschreibt: Wiedergeburt aus Wasser und Geist. Dadurch ist die Basis gelegt, aber darauf muss aufgebaut werden. An jedem von uns soll sichtbar werden, dass Christus in uns lebt.
 

„Über das Sakramentsverständnis wird nachgedacht“

naktuell.de: Es gibt in der Heiligen Schrift durchaus unterschiedliche Darstellungen. Zum einen lesen wir von Segenshandlungen und Handauflegungen durch Apostel. Wir lesen aber auch, dass der Heilige Geist in anderen Begebenheiten ohne die Tat eines Apostels wirksam wurde. Müssen wir daraus folgern, dass wir unser Sakramentsverständnis eigentlich etwas offener zu gestalten haben? Darf unsere Kirche das Geisteswirken weiterhin so eingrenzen, wie sie es zur Zeit tut?

Apostel Kainz: „Wir müssen das, was die Schrift zur Spendung des Heiligen Geistes sagt, so lassen wie es in der Bibel steht. Über das Sakramentsverständnis wird innerhalb unserer Kirche nachgedacht. Es gibt eine eigene Projektgruppe Glaubenslehre, die das Buch Fragen und Antworten überarbeitet. Im Zuge der Bestrebungen unserer Kirche, mit der Ökumene und mit unseren Mitchristen in Kontakt zu treten, wird natürlich auch das Sakramentsverständnis noch einmal reflektiert. Ich kann hier im Augenblick keine weitere Auskunft geben. Ich denke, dass von dieser Projektgruppe noch etwas klarere und präzisere Informationen über die Sakramente kommen werden. Die Beschäftigung mit der Offenbarung hat sehr viel dazu beigetragen, etwas mehr zu relativieren.

naktuell.de: Die Veröffentlichungen der Kirche zeigen, dass die Auseinandersetzung mit der Offenbarung in den letzten Jahren intensiviert wurde. Gleichwohl hat gerade dieses Buch der Bibel seit jeher einen großen Stellenwert für die Lehre unserer Kirche. Gab es bei der Auslegung der Offenbarung zwischenzeitlich so etwas wie eine Schaffenspause?

Apostel Kainz: „Es hat bis jetzt noch kein offizielles Werk zur Auslegung der Offenbarung gegeben. Vor über zehn Jahren hat der Stammapostel eine Projektgruppe eingesetzt, die zunächst den Auftrag hatte, einfach mal zu sichten, was es innerkirchlich an Literatur gibt. Als nächsten Schritt wurden Versuche unternommen, eine generelle Auslegung der Offenbarung vorzubereiten. Die ersten Ergebnisse liegen vor, wobei nicht die Meinung der Projektgruppe das Ausschlaggebende war. Alles wurde den Bezirksaposteln vorgelegt. Gemeinsam mit dem Stammapostel wurde von der Bezirksapostelversammlung verabschiedet, was dann offizielle Lehrmeinung ist. So soll sich mit der Zeit schließlich ein Konglomerat, eine Auslegung der Offenbarung aus der heutigen Sichtweise, am Ende darstellen.
 

„Renaissance ist mit Veränderungen verbunden“

naktuell.de: Sie haben in Ihrem Apostelbrief eine Reihe veränderungswürdiger Punkte in unserer Kirche beim Namen genannt. Wie stellen Sie sich die erwünschte „Renaissance des Werkes Gottes“ vor?

Apostel Kainz: „Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Das Werk Gottes soll dem Sohn Gottes würdig entgegen gehen. Ich zitiere Stammapostel Schmidt, der sagte: Wenn Jesus auf die Erde schaut, soll er seine Brüder und Schwestern sehen und feststellen: Ich sehe auf Erden mein eigenes Bild. – Das ist mein Bestreben im Werke Gottes in Österreich.

naktuell.de: Sie spannen damit den Bogen zum Glaubensziel neuapostolischer Christen. Könnte man sagen, dass die Veränderungen, wie sie in unserer Kirche begonnen wurden oder noch anstehen, zur „Vollendung des Werkes Gottes“ nicht nur beitragen, sondern geradezu notwendig sind?

Apostel Kainz: „In den Aussagen der Heiligen Schrift bezüglich der Wiederkunft des Sohnes Gottes wird festgestellt, dass viele Gefahren vorhanden sind. Das, was sich segensreich entwickelt hat, könnte ausufern oder sogar danebengehen. Aus diesem Grund ist es unsere Aufgabe, diesen einen Satz aus Matthäus 25 ernst zu nehmen, wo es im Gleichnis von den zehn Jungfrauen heißt: Als der Bräutigam verzug schliefen sie alle ein – auch die klugen. Und um Mitternacht war ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam kommt! Steht auf, ihm entgegen. – Das Aufstehen ist wichtig! Hierzu ist eine Renaissance nötig und dieser Prozess ist mit Veränderungen verbunden.

naktuell.de: Welche Chancen sehen Sie, mit einem derart aufrüttelnden Apostelbrief in der Zeitschrift „Unsere Familie“ auf die innerkirchliche Öffentlichkeit einwirken zu können?

Apostel Kainz: „Ich habe mit diesem Artikel eigentlich nur einen Gedanken, den der Stammapostel geäußert hat, aufgegriffen. Ich habe versucht, ihn in die Tat umzusetzen, wobei ich sagen muss: Wir sind erst in den Anfängen. Für mich ist das wichtig, was in Österreich geschieht und in den Ländern, in denen ich dienen darf. Was anderweitig geschieht, dafür bin ich nicht verantwortlich. Ich weiß nicht, welche Wirkung es außerhalb von Österreich hat.

naktuell.de: Herzlichen Dank für das Gespräch, für Ihren Mut und die Offenheit!

Das Gespräch führte: Christian Puffe, Stand: 18.10.2003
Quelle: http://www.naktuell.de